„Die Stadt der Professorin: Die Ökologin Lore Steubing in Gießen“.
Ein Stadtspaziergang der besonderen Art: Folgen Sie der renommierten Pflanzenexpertin und Professorin Lore Steubing (1922-2012) auf ihrem Karrierepfad durch Gießen.
In der heutigen Hein-Heckroth Straße befand sich die erste provisorische Bleibe Lore Steubings nach ihrer Flucht aus der DDR im Frühjahr 1957. Damals hieß der Straßenzug allerdings noch Bergstraße, bevor er 1977 nach dem Künstler und NS-Verfolgten Hein Heckroth benannt wurde. Hier also teilte Lore Steubing sich mit ihrer Stiefmutter zwei möblierte Zimmer. Es war eng, aber die beiden Frauen waren vermutlich ziemlich froh, überhaupt eine Unterkunft ergattert zu haben.
Genauso froh war Lore Steubing darüber, wenigstens einen Teilzeitjob gefunden zu haben. – und zwar in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihrem neuen Zuhause. Denn hier in der damaligen Bergstraße war auch der Sitz der Agrarmeteorologischen Zentrale, bei der Lore Steubing inzwischen als Halbtagskraft arbeitete. Dank ihrer Erfahrungen mit Wetteraufzeichnungen, die sie bereits als Doktorandin auf der Insel Hiddensee gemacht hatte, wurde sie beauftragt, meteorologische Daten in der Umgebung Gießens zu erheben und auszuwerten. Und in ihren Daten zeichnete sich auch die Weltpolitik ab.
Lore Steubing hatte die DDR zu einer Zeit verlassen, zu der die Systemkonkurrenz zwischen den USA und der Sowjetunion schärfer wurde. Mit dem ersten künstlichen Erdsatelliten Sputnik, den die Sowjetunion 1957 erfolgreich ins All brachte, stieg die allgemeine Nervosität. Der Rüstungswettlauf war inzwischen längst im Gang.
Die politischen Spannungen der Zeit lagen förmlich in der Luft, und die schwierige globale Situation war überall zu spüren. Das beobachtete auch Lore Steubing in Gießen. Besonders interessierte sie die Messung der Radioaktivität der Luft. Es war die Zeit, in der zahlreiche oberirdische Atomwaffentests durchgeführt wurden, unter anderem im Pazifik. Lore Steubing erinnerte sich später an ihre Befunde dieser Zeit: „Wir konnten damit rechnen, dass etwa 10 Tage nach einer dortigen Atombombenexplosion eine radioaktive Wolke über Gießen ziehen würde. Die Radioaktivität der Luft war dann so hoch, dass sich ein Röntgenfilm sofort schwärzte, wenn z.B. das Blatt eines Baumes aufgelegt wurde.“
Bald darauf fand Lore Steubing eine neue und dauerhafte Bleibe– und auch eine neue Anstellung.
Nach der Ankunft Lore Steubings in Gießen im Frühjahr 1957 schien es zunächst aussichtslos, eine dauerhafte Unterkunft zu finden. Die Wohnungsverhältnisse in der kriegszerstörten Stadt waren äußerst schwierig. Gießen war immer noch im Wiederaufbau begriffen. Als Lore Steubing gemeinsam mit ihrer Mutter nach einigen Monaten, im Herbst 1957, endlich eine Dreizimmerwohnung im zweiten Stock einer der schwer begehrten innerstädtischen Neubauten mieten konnte, hatte sie das Gefühl, langsam anzukommen. In diesem Jahr wurde zudem aus der Justus-Liebig-Hochschule endlich wieder die Justus-Liebig-Universität. Die akademischen Aussichten wurden damit vielleicht auch für sie besser. In der Wohnung in der Landgrafenstraße wird Lore Steubing die nächsten Jahrzehnte leben.
Die Organisation des Haushaltes übernahm ihre Stiefmutter, der sie sich zeitlebens eng verbunden fühlte. Vor der Tür parkte bald auch ihr erster Wagen, ein blaugrauer DKW, mit dem sie auf ihre Exkursionen fuhr und der genug Platz bot für Messinstrumente, Feldlabor und Campingausrüstung.
Die Wohnung in der Landgrafenstraße wurde ihr Rückzugsraum, aber diente gleichzeitig auch als Treffpunkt für Austausch und Feste mit Kolleginnen und Kollegen, Doktorandinnen und Studierenden. Und hierhin kehrte sie in den nächsten Jahrzehnten stets wieder zurück von ihren immer weiter entfernten Forschungszielen, die sie unter anderem nach Schweden, Jugoslawien, Island, Ungarn und über Europa hinaus nach Japan und in verschiedene Länder in Südamerika und Afrika führten. Erst viele Jahre später kaufte und bezog sie eine Eigentumswohnung in der Grünberger Straße.
In der Wohnung in der Landgrafenstraße hatte sie bald nach ihrem Einzug übrigens eine seltsame Begegnung. Im Januar 1958 stand hier ein ihr unbekanntes Pärchen vor der Tür, die Lore Steubing offensiv nach anderen DDR Flüchtlingen und ihrer Lebenssituation ausfragte. Lore Steubing war von dem Besuch irritiert und fragte bei den bundesdeutschen Behörden nach. Bald stellte sich in einem Gespräch mit der bundesdeutschen Spionageabwehr heraus, dass es sich um einen Agenten und eine Agentin aus der DDR gehandelt haben musste. Als einige Tage später ein Auto an der Ecke Moltkestraße auf Lore Steubing zuschoss und sie als Fußgängerin nur durch ein beherztes Wegspringen dem Überfahren entgehen konnte, stand die Frage im Raum, ob es sich um einen betrunkenen Autofahrer oder um einen gezielten Anschlag gehandelt hatte.
In Lore Steubings deutsch-deutscher Biografie spiegelte sich auch die Zeitgeschichte wider. Nach der Wiedervereinigung konnte sie ihre Stasi-Akte einsehen, die erst 1965, nachdem sie die DDR mehr als sieben Jahre verlassen hatte, geschlossen wurde.
Lore Steubing hatte zunächst zwar eine Teilzeitstelle beim Agrarmeteorologischen Dienst gefunden. Aber sie vermisste ihre eigene Fachdisziplin. Immer wieder zog es sie in den Botanischen Garten. Hier fühlte sie sich wohl, es war ein guter Ort für sie. Sie erinnerte sich später: „So gern ich auch bei den Agrarmeteorologen arbeitete, so fehlte mir doch der gewohnte Kontakt zu den Botanikern. Sehr schnell hatte ich bemerkt, dass in der Universitätsstadt Gießen der Botanische Garten flächenmäßig zwar klein, aber besonders gut gepflegt, informativ und für viele Menschen ein Ort der Ruhe und Entspannung war. Ich beschloss, zunächst einen Besuch bei dem Direktor des Botanischen Instituts und Gartens, Prof. von Denffer, zu machen und zu fragen, ob ich an den botanischen Kolloquien des Instituts teilnehmen könne. Damals gab es außer der Sekretärin keine weitere Frau im Institut. Alle wissenschaftlichen und technischen Assistenten waren Männer. Daher ist der Ausspruch von Herrn von Denffer gegenüber seiner Sekretärin wohl verständlich, als diese ihm den Besuch einer Wissenschaftlerin meldete: ,,Was will die denn?“ Das Gespräch verlief dann aber doch recht positiv.“
Ihre Kontaktoffensive markierte den Wiedereinstieg der habilitierten Botanikerin in ihr wissenschaftliches Fachgebiet, aber zu diesem Zeitpunkt schien Lore Steubing ihre „Zukunft sehr dunkel und ungewiss.“ Sie hangelte sich also erst einmal mit Jobs durch, unterrichtete Technische Assistent:innen und leitete Studierende im pflanzenphysiologischen Labor am Botanischen Institut an – und zwar unentgeltlich.
Nach dem Krieg hat das Botanische Institut provisorisch in einem sanierungsbedürftigen Gebäude an der Ecke Bismarckstraße/Ludwigsstraße seinen Sitz. 1960 zieht es in das nagelneue Gebäude an der Senckenbergstraße 17. Inzwischen hat Lore Steubing – obwohl habilitiert und überqualifiziert – eine Assistenzstelle am Botanischen Institut. Als die neuen Räume bezogen werden, bekommt Lore Steubing hier im zweiten Stock neben ihrem Arbeitszimmer auch noch zwei große Labore für ihre Studierenden, deren Zahl sich rasch erhöht. Endlich hat sie Entfaltungsmöglichkeiten. Sie erinnert sich später noch an eine kuriose Geschichte beim Einzug: „Damals gab es noch die Auflage, dass bei einem solchen Neubau ein Luftschutzraum vorhanden sein musste. Es war die Zeit der
beginnenden Protestmärsche gegen Krieg und Atombomben. Ich war sehr erstaunt, als bereits am Tage unseres Einzugs von einer überängstlichen Familie aus der Nachbarschaft sowohl Luftmatratzen als auch Konserven in den Luftschutzraum gebracht wurden. (Gottlob hat dieser Raum niemals seine Funktionalität beweisen müssen, stattdessen haben wir ihn später öfters für Faschingszwecke nutzen können.)“
1969 bekommt Lore Steubing endlich ihr eigenes „Institut für Pflanzenökologie“, zusätzliche Mitarbeiter:innen stellen und weitere Räume im Haus. 1975 kann das Institut in die neuen Gebäude des Interdisziplinären Forschungszentrums am Leihgesterner Weg ziehen.
Lore Steubing war zeitlebens kulturinteressiert und spielte auch selbst Klavier. Ihre Eltern besuchten mit ihr klassische Konzerte und schenkten ihr bereits als Kind einen Flügel. Sie verdiente sich als Jugendliche sogar mit Kammermusik für fürs Radio das erste Geld. Als junge Frau überlegte sie kurz, Konzertpianistin zu werden bis die Naturwissenschaften die Oberhand gewannen. Das Interesse aber bleibt.
In ihrer Berliner Jugend fährt sie frühmorgens um 5 Uhr los, um für Theater und Konzerte Eintrittskarten zu ergattern. Noch in ihrer Zeit als Lehrende an der Potsdamer Hochschule in den 1950er-Jahren sieht sie sich begeistert Vorstellungen des Theaters von Berthold Brecht in Ost-Berlin an und berichtet noch in ihren Lebenserinnerungen beeindruckt von der Aufführung von „Mutter Courage“ im Deutschen Theater. Genauso beeindruckt ist sie von den Aufführungen der Berliner Philharmoniker in West-Berlin.
Ihre Liebe zur Bühne und Musik setzt sich in Gießen fort. Sie wird zeitlebens ein Abonnement für die Gießener Bühnen besitzen und regelmäßig nutzen.
Der Karriereweg von Lore Steubing war trotz ihrer hohen Qualifikation immer wieder steinig und geprägt von Hindernissen. In Gießen muss sie sich erst einmal neu beweisen umhabilitieren. 1958 findet das Habilitationskolloquium statt und sie schreibt später: „Mein Vortragssaal war brechend voll. Ich wurde nun ja auch nach dem Kriege als erste Wissenschaftlerin an der Gießener Universität bestätigt. Bezahlt wurde ich zwar als Assistentin, hatte aber in der Lehre und Forschung die Funktion einer Professorin. So dauerte es auch nur knapp einen Monat, bis ich meinen ersten Doktoranden zu betreuen hatte.“
Die Universität schmückt sich allerdings gern mit ihr. Als 1959 der Bundespräsident Theodor Heuss die neue Universitätsbibliothek einweiht, führt sie den Zug der Professorenschaft mit an – im neu geschneiderten Talar. Zwei Jahre zuvor hatte sie noch als Zuschauerin vom Straßenrand aus den Festumzug mit ausschließlich männlicher Professorenschaft anlässlich des 350 Geburtstages der Universität beobachtet.
Lore Steubing nahm die Kluft zwischen Position und Repräsentation mit einem gewissen Humor zur Kenntnis: „Noch bis in die 60er Jahre war es der Wunsch der jeweiligen Rektoren unserer Universität, bei passenden Gelegenheiten herauszustellen, dass Gießen nun eine Professorin hatte. So erhielt ich z.B. bei allen Feiern, die im Audi Maximum stattfanden und bei denen die Professoren im Talar auf der Bühne Platz nahmen (z.B. bei der Immatrikulation der Studenten) gut sichtbar einen Stuhl direkt am Rande der Bühne. So manche bekannte Persönlichkeit saß daher „zu meinen Füßen“.
1965 verspricht man ihr eine vollwertige Professur. Die lässt allerdings bis 1969 auf sich warten.
Alle Zitate aus den privaten Erinnerungen Lore Steubings „Unglaublich, aber wahr“ im Besitz von Dr. Jost Haneke.
Wir danken ihm herzlich an dieser Stelle.