„Ich bin erstaunt, wie wenig Frauen im Hochschulbetrieb der Bundesrepublik tätig sind.“

Lore Steubing – 1959
Lore Steubing
und ihre Welt der Wissenschaft

Vielfalt ​ erforschen -  verstehen.

"Eine Menge an Energie"

Lore Steubing
1922-2012

Am 1. Februar 2022 jährt sich der 100. Geburtstag der Biologin Lore Steubing. Die  Gießener Professorin für  Pflanzenökologie und leidenschaftliche  Freilandforscherin bildete  Generationen von Ökolog:innen und  Umweltwissenschaftler:innen aus.
Lore Steubing baute 1969 das erste Institut für  Pflanzenökologie der Bundesrepublik auf, schuf Standardwerke der biologischen Praxis, beriet die Politik in Umweltfragen und genoss internationale Anerkennung für ihre wissenschaftlichen Leistungen. Dabei war ihr Weg an die Spitze der Wissenschaft keineswegs einfach. Steubings Biografie erzählt von Neugier, Energie und großer Beharrlichkeit.

» Hamm/Westfalen 1. Februar 1922: Geburt Eleonore (Rufname Lore) Steubing
» Berlin ab 1939: Abitur, Arbeitsdienst und 1940 Beginn des Biologiestudiums
» Greifswald ab 1944: Fortsetzung des Studiums und Beginn ökologischer Forschung
» Hiddensee ab 1945: Hilfsarbeiterin in der Landwirtschaft, Schäferin, Erhebung von Wetterdaten
» Greifswald ab 1947: Promotion und anschließend Assistenzstelle
» Potsdam ab 1952: Aufbau eines Feldlabors im Park von Sanssouci, Lehre, Habilitation
» Berlin 1957: Flucht in den West-Teil der Stadt
» Gießen ab 1957: wechselnde Arbeitsverträge,
Antrag einer neuen Lehrbefugnis; Lehre und Forschung
» Kolumbien 1965: erster Forschungsaufenthalt in Santa Marta
» Schweiz 1966: Berufung an die Eidgenössische Technische Hochschule in Zürich, den Steubing absagt
» Gießen ab 1969: Einrichtung einer Professur an der Justus-Liebig Universität für Steubing.
Sie gründet das erste Institut für Pflanzenökologie in der BRD.
» China und Chile ab 1988: Nach ihrer Pensionierung in Gießen Fortsetzung der wissenschaftlichen
Arbeit als Honorarprofessorin in Shanghai und Valdivia, weltweite Forschungs- und Unterrichtsreisen
» Augsburg 2012: Steubing verstirbt fast 90jährig während einer Reise

*Dr. h.c. steht für Doctor honoris causa – also „Doktor ehrenhalber“.
Der Titel wurde Lore Steubing 1994 von der Universität in Gödöllő (Ungarn) für ihre Verdienste in der Umweltforschung verliehen.

Forschungshunger stillen

Eleonore Steubing wird am 1. Februar 1922 in  Hamm/Westfalen in ein  bürgerliches Elternhaus  geboren. Die Familie zieht einige Male um. Als Abiturientin entscheidet sich Lore Steubing 1939 zu studieren, um beruflich und finanziell unabhängig zu sein. Sie will Biologin werden.

Im nationalsozialistischen Regime ist die Voraussetzung für ein Studium der Dienst als „Arbeitsmaid“. Erst im Winter 1940 kann Lore Steubing sich endlich an der Universität in Berlin für Biologie einschreiben. Die junge Frau ist von Pflanzen, ihren Lebensprozessen und Umweltbeziehungen fasziniert. Immer wieder wird ihr Studium von Dienstverpflichtungen in Rüstungsbetrieben unterbrochen. 1944 beginnt sie auf der Insel Hiddensee die Ökologie von Strandpflanzen zu untersuchen. Akribisch legt sie deren Wurzelsysteme frei und misst die physikalischen und chemischen Bedingungen. 

 

Lore Steubing erlebt das Kriegsende auf der Insel. In der unmittelbaren Nachkriegszeit arbeitet sie zunächst als Schäferin und Melkerin. Als die Universität in Greifswald die Lehre wieder aufnimmt, setzt sie ihre Studien fort und arbeitet zudem als Hilfsassistentin an der Biologischen Anstalt Hiddensee und für den Wetterdienst. Steubings Doktorvater, Erich Leick, ist als aktiver Nationalsozialist nach Kriegsende entlassen worden. Sie promoviert schließlich bei der Botanikerin Käthe Voderberg.

"Auf der Insel gab es kein Papier zu kaufen. Frau Voderberg sammelte für mich in Greifswald, Stralsund und Rostock Schreibpapier. Knapp zwei Wochen vor der angesetzten Doktorprüfung kam sie mit dem Abenddampfer nach Hiddensee und hatte nicht nur das Schreibpapier bei sich, sondern auch noch eine Schreibmaschine mitgebracht. (…) Wir haben dann tatsächlich die Nacht hindurch jede an einer Schreibmaschine gesessen und getippt.“

Wissen verbreiten

In der jungen DDR eröffnen sich Lore Steubing neue Chancen in Lehre und Praxis. Eine ungeheuer produktive Phase beginnt. Aber die Verhältnisse sind schwierig. Sie siedelt 1957 nach Gießen über und muss noch einmal von vorne anfangen. 

 

Lore Steubing leitet zunächst stellvertretend die Biologische Forschungsanstalt auf Hiddensee. 1952 beginnt sie an der Pädagogischen Hochschule in Potsdam die Gelände-Ökologie samt Feldlabor am Rand des Parkes von Sanssouci aufzubauen und habilitiert sich. Gleichzeitig vertritt sie an der Humboldt-Universität in West-Berlin die Pflanzenphysiologie und Ökologie. Steubing ist eine begeisterte Lehrende mit ausgeprägtem Anwendungsbezug und großer Experimentierfreude. Sie hält Vorlesungen und entwickelt systematische pflanzenphysiologische Praktika. 1957 erhält sie in Potsdam eine „Professur mit Lehrauftrag für Allgemeine Botanik und Geobotanik“. Aber Lore Steubing steht inzwischen unter Beobachtung der Staatssicherheit. Sie verlässt die DDR mit dem Ziel Gießen, wo sie auf eine Anstellung bei der Agrarmeteorologischen Forschungsstelle hofft. Eigentlich ist Lore Steubing längst eine ausgewiesene Fachfrau und erfahrene Hochschullehrerin. Aber in Gießen wird sie als Frau, zudem noch als eine Wissenschaftlerin aus der DDR, ausgebremst. Sie schlägt sich mit Teilzeitstellen und Lehraufträgen durch. Obwohl sie sich umhabilitiert und die Funktionen einer Professorin ausübt, bekommt sie lediglich das schmale Gehalt einer Assistentin. Trotz der Benachteiligungen treibt Steubing ihre ökologische Forschung voran.

Infrastrukturen schaffen

Nach einer längeren Durststrecke erhält Lore Steubing endlich die angemessene Anerkennung für ihr Fachwissen und wissenschaftliches Engagement. Sie wird eine gefragte Expertin, Wissenschaftskommunikatorin und Initiatorin pflanzenökologischer Forschung.

Steubings Forschung und Expertise schlagen Wellen. Ab 1964 wird sie für das wegweisende Internationale Biologische Programm der UNESCO aktiv. 1965 erhält sie das Angebot für eine Professur an der Universität Hannover, kurz darauf einen Ruf an die Eidgenössische Technische Hochschule in Zürich. Hier soll sie als erste Frau den prestigeträchtigen „Lehrstuhl für Geobotanik“ übernehmen. Daraufhin wird ihr in Gießen die Einrichtung eines Lehrstuhls für Pflanzenökologie versprochen. Steubing lässt sich auf die Zusage ein und sagt die anderen Angebote ab. Es folgen zähe Verhandlungen, wiederholte Absagen und Verzögerungen – eine Phase, die Lore Steubing als die „schwerste Zeit“ an der Universität in Gießen bezeichnet. 1969 kann sie endlich als Professorin das neue Institut für Pflanzenökologie und damit eine eigene wissenschaftliche Infrastruktur einrichten. In kurzer Zeit baut sie mit ihrem Team ein Zentrum angewandter ökologischer Forschung auf und wirbt Aufträge und Drittmittel ein. 

Umweltwissenschaft vernetzen

In den 1970er-Jahren entwickeln sich Umweltthemen zu zentralen Fragen von Politik und Gesellschaft. Was für die Öffentlichkeit noch nach Neuland aussieht, ist für Steubing vertrautes Terrain: Sie gehört schließlich zu den Pionier:innen der ökologischen Forschung.

Steubing erkennt den Trend und liefert die praxisrelevanten Methoden und wissenschaftlichen Einschätzungen zur Bekämpfung menschengemachter Probleme. Unter anderem beschäftigt sie sich intensiv mit den Fragen der Luftverschmutzung und Umwelttoxikologie. Die Lösung der Probleme braucht breites Fachwissen. Zu diesem Zeitpunkt ist es keineswegs selbstverständlich, dass Studierende der Biologie eine ökologische Ausbildung erhalten. Steubing setzt sich für interdisziplinäre Forschung ein und stößt 1970 die Gründung der „Gesellschaft für Ökologie“ an. Längst ist die Professorin weltweit vernetzt. Sie stößt Wissenschaftskooperationen über Grenzen hinweg an und bindet den Nachwuchs aktiv in die Forschung ein. Zu ihrem Bildungsverständnis gehört auch, dass sie sich für öffentliche Bildung einsetzt und die Initiative „Jugend forscht“ aktiv unterstützt. 
1988 wird sie emeritiert. Aber das bedeutet für Steubing nicht das Ende ihrer Arbeit. Im Gegenteil. Frei von den akademischen Verpflichtungen forscht, reist und publiziert sie interkontinental. Bis ins hohe Alter geht sie mit ins Feld und ordnet Phänomene in ihr ökologisches Generalwissen ein.

Am 1. Januar 2012 stirbt sie, vielfach ausgezeichnet und geehrt, an den Folgen eines Sturzes.